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Lesestunde : Autorin Grit Poppe lud ein

„Ein Buch gegen das Vergessen!“

St.Vith.- Die Lesefördergruppe der Leonardo-Mediothek in St.Vith fasst zusammen mit dem Deutschunterricht des 3. Lehrjahres am Zawm  regelmäßige Autorenlesungen ins Auge, um das Bewusstsein und die Faszination des Lesens in der Schule und auch in der Freizeit zu steigern. Nach der Premiere mit der Jugendbuch-Erfolgsautorin Gudrun Pausewang, war am vergangenen Dienstag und Mittwoch nun die Schriftstellerin Grit Poppe zu Gast, die mit ihrem Roman „Weggesperrt“ über die Situation von „auffälligen Jugendlichen“ in den so genannten Jugendwerkhöfen des sozialistischen Einheitsstaates der DDR bereits viel Aufsehen erregt hat.  Derzeit steht der Titel beispielsweise auf der Prüfungsliste der baden-württembergischen  Realschulen. Zusammen mit dem Zeitzeugen und ehemaligen JWH-Insassen Stefan Lauter beschrieb die Autorin gezielt die Schreckensszenarien im damaligen DDR-Jugendstrafvollzug.   

Bei „Weggesperrt“ handelt es sich um ein  packendes Buch über Erziehungsheime in der DDR.  Hier wurden „sozial auffällige Jugendliche“ systematisch zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ umerzogen, quasi „geradegebogen“. In der derzeit verniedlichenden „Ostalgie-Welle“, bei der das Leben in der DDR-Diktatur mitunter von diversen Privatsendern in entsprechenden Fernsehshows äußerst blumig dargestellt wird, sei es laut Stefan Lauter wichtiger denn je, die deutsch-deutsche Vergangenheit politisch und gesellschaftskritisch aufzuarbeiten, damit diese Gräueltaten an Menschen nie wieder vorkommen können.

Gegen „Ostalgie“-Welle

Grit Poppe, die selbst in der DDR- Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt!“ engagiert war, führte in ihrem Roman sorgfältig recherchierte Erzählungen vieler Zeitzeugen zusammen und ergänzte sie mit fiktiven Elementen zu einem stimmigen Bild der tatsächlichen Zustände in der ehemaligen DDR vor der Wende.  Eingeleitet wurde die Lesung durch einen kurzen Dokumentarfilm, der den Schülern eindrucksvoll die bittere Realität in den Jugendwerkhöfen der DDR verdeutlichte.  Beeindruckend hierbei sicherlich für die beteiligten Schüler der allgemeine Eindruck der Zeitzeugen, auch nach über 20 Jahren nach dem Ende des Unrechtstaates der DDR gegen Traumata ankämpfen zu müssen.  „Ich fühle mich noch immer nicht in großen Menschenmengen wohl, zucke beim Rasseln eines Schlüsselbundes verschreckt zusammen oder setze mich, um den Beobachtungen von Mitmenschen zu entgehen im Kinosaal bewusst in die letzte Reihe“, so Stefan Lauter.

Postraumata

Daher bezeichnete Grit Poppe ihr Buch auch als Ausdruck der Wut über ein lange totgeschwiegenes Thema, bei dem ein Staat sich als Schicksalswächter von Kindern und Jugendlichen aufspielte. „Litt man am heutzutage weit verbreiteten Zappel-Philipp-Syndrom, wurde man sogleich in ein Umerziehungslager gesteckt.  Eckte man auch dort an, war der Weg in den Jugendknast von Torgau praktisch vorgezeichnet“, so Grit Poppe.  „Ich habe rein zufällig von diesen Verbrechen gegen Heranwachsende erfahren.  Und gerade dieser Umstand, dass ich selbst nichts von Torgau wusste, obwohl ich in der DDR aufgewachsen bin, und dass meine eigenen Kinder, die nach der Wende geboren sind, in der Schule nicht informiert wurden, trieb mich bei den Recherchen und schließlich beim Verfassen des Buches immer wieder an“, erklärte die Autorin,  Demnach sieht Grit Poppe ihr Werk auch nicht nur als Roman, sondern vielmehr als längst überfällige Möglichkeit, diesen dunklen Teil der DDR-Geschichte aufzuarbeiten und sich somit gegen das „Vergessen“ zur Wehr zu setzen. 

Erzieher auch heute aktiv

Es sei doch bemerkenswert, dass die Erzieher dieser Heime, die oftmals Gewalt und Sadismus als einzige pädagogische Maßnahme einsetzten auch heute noch immer in Erziehungsberufen tätig sind, bemerkte Stefan Lauter.  Stefan Lauter war einer von über 4000 Jugendlichen, die zwischen 1965 und 1989 im Erziehungsheim in Torgau gedemütigt, gequält und zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ umerzogen wurden. „Das lässt sich mit Worten kaum beschreiben", bemerkte er vor den aufmerksamen ostbelgischen Schülern und Lehrlingen.  Lauter kam als 16-Jähriger in diesen Jugendwerkhof, nachdem er zuvor wie viele andere „Leidensgenossen“ als Schwererziehbarer eingestuft in einem Heim war.  „Ich stamme aus einer DDR-Vorzeigefamilie, mein Vater war Stasioffizier und meine Mutter arbeitete als Funktionärin.  Meine Kindheit verlief eigentlich ganz normal, bis ich mich im Alter von 13 Jahren in ein Mädchen verliebte, das regelmäßig zu evangelischen Jugendstunden ging.  Dorthin begleitete ich sie und ich begann meinen doch bis dato beschränkten politischen und gesellschaftlichen Horizont in Gesprächen mit dem Seelsorger zu erweitern“.  Daraufhin kam es zu Aufmüpfigkeiten in der Schule, die schließlich dazu führten, dass ein Lehrer für Staatsbürgerkunde Stefan Lauter als „Staatsfeind“ ausmachte und anzeigte. 

Von pubertärer Aufmüpfigkeit zum „Staatsfeind“

„Das Fass zum Überlaufen brachte jedoch die öffentliche Rückgabe meines FDJ-Ausweises bei einer offiziellen Schulveranstaltung der 10. Klasse“, erinnert sich Stefan Lauter.  Der junge Mann wurde von den Eltern getrennt und in ein Heim gesteckt.  Dort glitt er jedoch in die damalige Punk-Szene „Berlin Alexanderplatz“ ab, wo er mehrmals wegen „antisozialistischen Benehmens“ von Volkspolizisten festgesetzt wurde.  Im Jugendwerkhof sollte Lauter schließlich „resozialisiert“ werden. „Ich habe aber mit meinen Provokationen weitergemacht, sorgte für Unruhe, ohne aber unbedingt strafbar zu werden“.  Erst nach einem missglückten Ausreißversuch kam Lauter nach Torgau, wo für ihn in der Arrestzelle der Leidensweg begann.  „In Torgau habe ich regelrecht um mein Leben gebangt“, erinnert sich der Zeitzeuge gefasst. Was folgte waren 16 Wochen ärgste Drangsale und Repressalien: ständige sinnlose Appelle wie beim Militär, Demütigungen, Erniedrigungen, Brechung jeglicher Persönlichkeit, physische und psychische Drangsale, Gruppenstrafen, Nahrungsentzug, ständige Kontrolle und Beobachtung, selbst bei Toilettengängen, Verrichtung der Notdurft auf Befehl, Sport bis zur völligen Erschöpfung, Schläge und vieles andere mehr waren an der Tagesordnung.

Sozialistische „Rotlichtbestrahlung“

„Das war die ultimative Rotlichtbestrahlung durch die DDR, um die aufmüpfigen Jugendlichen doch noch für ihr Regime gefügig zu machen.  Die Wirkung war offensichtlich, denn die ständige Angst  beflügelte", berichtete Stefan Lauter.  Unter diesen Umständen waren auch Selbstmordgedanken präsent. „Drei meiner Freunde haben sich während des Aufenthaltes in Torgau das Leben genommen“.  Auch der Gruppenzwang führte oftmals zu sadistischen Ausartungen untereinander, die von den Aufsehern geduldet wurden.  So wurde der „schlechteste Arbeiter, die schlechteste Gruppe“ allabendlich gerügt, mit Essensentzug bestraft und von den anderen regelrecht vorgeführt. „Für die betroffene Gruppe war der Frust groß, so dass sofort intern nach dem tatsächlichen Sündenbock Ausschau gehalten wurde: Prügel,  das Drücken des Kopfes in die Fäkalienschüssel sowie andere Folterungen waren die Konsequenz“. Der Jugendwerkhof Torgau war für Stefan Lauter schlimmer als ein Knast. „Egal was ein Jugendlicher gemacht hat, niemand hat es verdient, dass seine Menschenwürde mit den Füßen getreten wird."

Innere Befreiung

Sowohl für Grit Poppe als auch für den Zeitzeugen Stefan Lauter wurde der Mauerfall schließlich auch zur „inneren Befreiung“.  „Ich bin froh, dass ich diese Zeit überlebt habe und werde versuchen auch weiterhin durch Besuche in Schulen und bei diversen Lesungen von den Gräueltaten in der DDR zu berichten“, erklärte Stefan Lauter.  Grit Poppe hofft indes, dass demnächst eine Filmgesellschaft bei ihr anklopft, damit das brisante Thema auch auf Zelluloid gebannt werden kann. Die Tatsache, dass sich „Weggesperrt“ zum Bestseller im Jugendbuchsegment mausert, spricht für dieses Filmvorhaben, für das sich die Autorin die Drehbuchrechte gesichert hat.  „Wenn die Geschichte verfilmt wird, soll sie so authentisch wie nur eben möglich sein und keine typischen Hollywood-Elemente beinhalten“, so Poppe abschließend. Die Schüler des 4. Jahres der Bischöflichen Schule und des Technischen Institutes St.Vith und auch die Lehrlingsabsolventen des Zentrums für Aus- und Weiterbildung im Mittelstand St.Vith kamen bei dieser interessanten Maßnahme im Rahmen des Deutschunterrichtes jedenfalls voll auf ihre Kosten und zeigten sich auch von den beiden Ex-DDR-Bürgern beeindruckt. „Das waren mal Informationen aus erster Hand, die die DDR mitunter in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen“, so eine Schülerin des ZAWM. (gh)

Hintergrund: Jugendwerkhöfe
Eine Bagatelle reichte für eine Einweisung
St.Vith.- Der Jugendwerkhof war eine Einrichtung der Jugendhilfe der DDR; es gab insgesamt 60 Werkhöfe, in denen Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren mit Disziplin und Arbeit "zu sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen" werden sollten. Das betraf nicht nur Jugendliche, die sich für Sachbeschädigungen, Diebstähle oder Gewalt verantworten mussten, es reichten oft schon kleinere Vergehen aus, die der Obrigkeit oder Nachbarn auffielen.  Oftmals genügte Schule schwänzen für eine Einweisung aus.  Die Betroffenen erhielten in den Höfen eine handwerkliche Teilausbildung, mit der sie aber nur Hilfstätigkeiten ausüben konnten.  Selbst ein Ausreiseantrag der Eltern genügte, um die Kinder von ihren Familien zu trennen. Dieser Antrag war für die Spitzel der Stasi Grund genug, den Eltern die Fähigkeit zur sozialistischen Erziehung abzusprechen. Die „Republikflucht- Kinder“ kamen in Jugendwerkhöfe, in denen sie gedemütigt und schikaniert wurden. Wer als „Entweicher“ einmal aus solchen Einrichtungen geflohen war, kam nach Torgau, wo Gewalt und Folter an der Tagesordnung waren. So benutzten die Erzieher beispielsweise ihren Schlüsselbund als Waffe. In Torgau wurden die Jugendlichen ebenfalls für Wochen in Einzelzellen „weggesperrt“. Die Kinder waren allein gelassen und oft derartig verzweifelt, dass sie mit einer Fliege an der Wand sprachen. Unter diesen Umständen war die Aussicht, in die Krankenstation zu kommen, schon fast erhellend und so verletzten sich manche Jugendliche zum Teil selbst wie zum Beispiel durch Schlucken von Nägeln oder Trinken von Reinigungsmitteln, weil sie dachten, dass es in der Krankenstation besser wäre oder sich dort eine Möglichkeit zur Flucht bieten würde. Immer wieder kam es auch vor, dass Kinder diesen Grausamkeiten nicht gewachsen waren und Selbstmordversuche starteten. Die „Entlassenen“ mussten Papiere unterschreiben, in denen sie sich verpflichteten, ein Jahr über ihren Aufenthalt zu schweigen und in denen sie eine gute Behandlung beurkundeten. Die meisten Missbrauchsopfer waren traumatisiert. Nicht wenige sind heute noch nicht in der Lage über die damaligen Vorgänge zu sprechen. Opfer der Jugendwerkhöfe erhalten heute nach genauer Aktenprüfung ein geringes Schmerzensgeld von 20 € pro Tag. „Ich bin eine gebrochene Persönlichkeit; ich habe beruflich aufgrund meines Hofaufenthaltes viele Chancen verbaut bekommen, während ich durch die ständigen Schikanierungen derzeit zu 40% arbeitsunfähig bin und nicht mehr als 20 Stunden wöchentlich arbeiten darf.  Von Posttraumata ganz zu schweigen“, so Stefan Lauter. (gh)

Hintergrund: „Weggesperrt“
„Eine geraubte Jugend“
St.Vith.- Das Buch „Weggesperrt“ von Grit Poppe beschreibt die Situation in der DDR im Jahre 1988. Die 14-jährige Anja eckt in der Schule zwar immer mal wieder an, ernsthafte Probleme hat sie aber bisher nicht. Als ihre Mutter einen Ausreiseantrag stellt und öffentlich protestiert, ändert sich Anjas Leben schlagartig. Sie wird in einen Jugendwerkhof, eine Einrichtung der Jugendhilfe, gebracht, ohne dass sie den Grund erfährt oder weiß, was mit ihrer Mutter ist. Anja ist geschockt von den Zuständen im Heim, der Willkür der Erzieher, der Gewalt und dem Drill. Sie will nur eines: fliehen. Tatsächlich gelingt ihr die Flucht.  Eine zeitlang kann sie bei Verwandten untertauchen. Doch dann wird sie von der Polizei ertappt und zurückgebracht. Es geht von vorne los: Arbeit, Strafen, Drill und Sport. Und es kommt noch schlimmer: Als Anja eines Tages ausrastet, bringt man sie nach Torgau, in den geschlossenen Jugendwerkhof. Dort ist es wie im Gefängnis: Stahltore, Gitter, Stacheldraht und Hunde. Willkür, Demütigungen und Gewalt steigen ins Unermessliche. Indessen beginnt „draußen“ der Herbst ’89.