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7 Wünsche - Gedanken zum Studienabschluss

Ich stehe am Fenster meines Büros. Eigenartig, denk ich, je älter man wird, je öfter steht man am Fenster und schaut nach draußen. Unten geht ein alter Bekannter vorbei. Ich winke ihm zu, er winkt zurück. Ich denke, dass er denkt - so ist das mal bei alten Bekannten - (und mein alter Bekannter spricht Platt): "Do steht den ant Fenster on hat eröm nöjst ze don." Was er nicht weiß und wer will ihm das verdenken, ist, dass auf meinem Bürotisch ein Stück Papier liegt, auf dem ich die Ideen für das diesjährige Abschlusswort notiert habe. Ich wollte schreiben:
vom Abschied nehmen; von den vertrauten Gesichtern, die einem fehlen werden, von den schönen Tagen, an denen gelacht wurde, von den weniger schönen Tagen, an denen es mal nicht so gut lief, vom Zuhause, wo demnächst die vertrauten Geräusche fehlen werden, weil man hinauszieht in die Welt.
Hatte dann den Gedanken verworfen und durchgestrichen: Es wäre nämlich eine zu einseitige Sicht der Dinge gewesen, nur über das Vergangene und Fehlende zu reden. Es käme dem Bauern gleich, der über sein Stoppelfeld geht und klagt, dabei aber die Ernte vergisst, vergisst, dass er den Vorrat für den Winter in seiner Scheune angelegt hat.

Hatte anschließend wieder einen neuen Gedanken gefasst: Sprich nicht vom Verlust, dachte ich mir, sondern, von der Ernte, von dem, was man gelernt hat, von dem, was man an Erfahrungen gesammelt hat, um winterliche Zeiten zu überstehen.
Aber auch diesen Gedanken hatte ich wieder verworfen. Er kam mir zu unbescheiden vor, so als könne man mit einem Glas Wasser den Durst des ganzen Lebens stillen. Denn, das bisher Erworbene ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Wegzehrung, für einen Winter, für den Anfang einer langen Reise.
Eine Reise, die ins Ungewisse führt und uns Erwachsenen, uns Eltern - das dürfen wir getrost zugeben - mit mancher Sorge erfüllt.
Wen wundert's da, dass ich auf die Idee verfiel, gute Ratschläge mit auf den Weg zu geben, wie: feiere nicht zu viel; geh nicht zu spät schlafen; lerne fleißig; achte auf die richtigen Freunde… (Ich gebe zu, da kann man aus dem Vollen schöpfen und dem Herzen eines Erwachsenen vollen Lauf gönnen.)
Aber, so mein innerer Einwand, sind diese Ratschläge nicht überflüssig in dem Sinne, dass sie im Überfluss gesagt worden sind? Und, so meine Überzeugung, jeder weiß sowieso, wie wichtig und richtig sie sind. Deshalb bedurften sie nicht der Wiederholung.

So hatte ich auch diesen Gedanken durchgestrichen. Ich stand also am Fenster, als mein alter Bekannter vorbeiging und mir zuwinkte - und wusste nicht mehr weiter. Doch ließ mich der Gedanke an die lange Reise nicht los und auch das Bedürfnis nicht, euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auf dieser vor euch liegenden Reise durchs Leben mit den besten Wünschen zu begleiten. Eine Stimme in meinem Hinterkopf meldete sich:" Was sind denn die besten Wünsche?" Meine erste Eingebung war, es müssen sieben sein. Warum sieben? Ganz einfach, weil die Welt in sieben Tagen geschaffen wurde, die Woche sieben Tage zählt und man sieben mal siebzig mal verzeihen soll. Es ist die Zahl der Vollkommenheit, des Unendlichen. Gut und schön - dachte ich mir - aber welche sieben Wünsche sollten euch begleiten?
Ich schau aus dem Fenster, mein alter Bekannter ist schon weit weg. Unsere fleißigen Nachbarn sind bei der Arbeit: der eine mauert, der andere pflastert seine Terrasse, der dritte schert seine Hecke. Und dann sehe ich eine Familie, die unten auf der Straße mit ihren Kindern spazieren geht. Die Kinder laufen voran. Die Eltern rufen ihnen nach, aber die Kinder scheinen nicht zu hören. Und dann ist er da, mein erster Wunsch.

Am Anfang einer Reise ist man voller Energie. Man glaubt zu wissen, wohin der Weg führt und das Ziel scheint in unmittelbarer Nähe zu liegen, wenn man nur schnell genug geht.
Manchmal wird dich dann ein vertrauter Weggefährte, der dich bisher begleitete, stören, weil er alt scheint und außer Atem ist. In deiner Ungestümtheit wirst du ihn als Hindernis empfinden.
Dann wünsch ich dir nicht, dass du fortläufst und ihn außer Rufweite hinter dich lässt. Du könntest ihn missen. Wohl wünsch ich dir die Erkenntnis, dass dieser vertraute Weggefährte alt scheint, weil er schon einen langen Weg gegangen ist, außer Atem ist, weil er schon hoch auf den Berg des Lebens angekommen ist, aber von dieser Höhe weit sehen kann, weiter als du, der du dich noch im Flachland befindest.
Vertraue seiner Weitsicht und mach sie dir zu Nutze auf der langen Reise des Lebens.
In der Zwischenzeit hat sich ein junger Mensch am Kastanienbaum unter meinem Fenster niedergelassen um zu rasten. Und so wie das Blatt, dass sich vom Kastanienbaum gelöst hat und zur Erde schwebt, fällt er mir ein, mein zweiter Wunsch.
Manchmal wird dein Weg dich auf Straßen führen, die breit und einladend sind, gesäumt von den Annehmlichkeiten des Lebens. Du wirst versucht sein zu bleiben, weil man gerne dort bleibt, wo es angenehm ist, und die Bequemlichkeiten des Lebens einen umgarnen. Vielleicht wirst du dann vergessen, dass du aufgebrochen bist, eine Reise zu tun, und vergessen, dass du ein Ziel hattest und es aus den Augen verlieren.
Dann wünsch ich dir nicht, dass du auf das Genießen verzichtest. Genießen können gehört zum Leben wie die Oase zur Wüste. Wohl wünsch ich dir den Blick für das Maß der Dinge und die Einsicht, dass jedes Rasten nur ein Einhalten ist mit dem Ziel, Kraft zu schöpfen um weiterzugehen auf der langen Reise durchs Leben.

Ein Wanderer zieht vorbei an meinem Fenster. Ich sehe es an seinem Gang: er ist müde. So als würde eine große Last ihn drücken. Mein dritter Wunsch nimmt Form an.
Manchmal wird dir der Weg unendlich lang vorkommen, so als wolle er nie enden. Die Last, die du trägst, scheint dich mit jedem Schritt mehr zu erdrücken. Es werden bange Fragen auftauchen: Werde ich das Ziel erreichen? Wird meine Kraft reichen? Werde ich unter der Last zerbrechen oder soll ich mich doch lieber auf den Rückweg begeben?
Dann wünsch ich dir nicht, dass die Last des Lebens dir erspart bleibt. Sie macht stark. Wohl wünsch ich dir die Erkenntnis, dass man nicht alles tragen muss und kann. Unnützen Ballast kann man abwerfen.
Dazu braucht es lediglich der Klugheit, Unnützliches vom Lebensnotwendigen zu unterscheiden. Hast du das erkannt, brauchst du den Rückweg nicht zu gehen, denn er ist manchmal länger als der Weg zum Ziel auf der langen Reise des Lebens.
Nicht weit von meinem Fenster ist eine Brücke. Sie führt über einen Bahndamm. Ich frage mich, ob die vielen Fußgänger sie auch betreten würden, wenn sie schwankend und unsicher wäre. Diese Brücke offenbart mir den vierten Wunsch.
Manchmal wird dich der Weg über eine schwankende Brücke führen. Du wirst dir die Frage stellen ob du sie betreten sollst. Schwindelgefühle ängstigen dich. Du bist dir nicht sicher, ob sie dich tragen wird, ob du dir das zutrauen kannst. Andernteils wirst du zerrissen vom Wunsch, die andere Seite, jenseits der Brücke, zu erreichen.

Dann wünsch ich dir nicht, im Hin- und Hergerissensein der Unentschlossenheit zu verharren und stehen zu bleiben. Unzufriedenheit würde sich deiner bemächtigen. Wohl aber wünsch ich dir die Zuversicht, sie zu betreten und sollte sie zu furchteinflössend sein, den Mut, einen Umweg zu gehen, um das Ziel auf der langen Reise des Lebens zu erreichen.
In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Ich sehe die Strasse nicht mehr, nur mein eigenes Bild, das sich in der Fensterscheibe spiegelt. Ich kehre zurück an meinen Schreibtisch, während mein fünfter Wunsch sich aus der Dunkelheit löst.
Manchmal wird der Weg in eine dichte Nebelwand eintauchen. Das Unbekannte wird dich schrecken:
Wohin führt dieser Weg, werde ich mich verirren? Und du wirst zögern weiterzugehen und Begonnenes zu Ende zu führen. All die Pläne, die du geschmiedet hast und die Ziele, die du dir gesteckt hast, drohen vor Ungewissheit und Angst verloren zu gehen.
Dann wünsch ich dir nicht, dass du frei bist von Angst und einfach drauf losstürmst in den Nebel. Denn Angst macht vorsichtig und umsichtig, lädt ein, genau vor und um sich zu schauen. Das braucht man um den richtigen Weg zu finden. Wohl wünsch ich dir, dass du deine Angst überwindest. Das kannst du. Du brauchst nur etwas, an das du dich im Dunkel des Nebels festmachen kannst. Und das ist „Glauben".
Denn dieses Wort bedeutet nichts anderes als „sich festmachen". Dann wirst du weitergehen auf der langen Reise des Lebens, Begonnenes zu Ende führen und Geplantes verwirklichen.
Es ist still geworden im Haus. Das vertraute Türenschlagen, Telefonklingeln und die gewohnte Ungestümtheit der Zwischenstunden sind verklungen. Diese Stille flüstert mir den sechsten Wunsch zu.

Manchmal wirst du auf deinem Weg nur den Hall deiner eigenen Schritte hören. Nicht mal ein Vogel singt. Die unendliche Stille und Einsamkeit will dich schier erdrücken. Du wirst dich nach nichts mehr sehnen als nach einem Gefährten, der mit dir Leid und Freud teilt.
Dann wünsch ich dir nicht, dass du im Lärm der Welt deine Einsamkeit ertränkst. Man wird dich nicht hören. Wohl wünsch ich dir einen Vorübergehenden, der anhält, zuhört und dann das richtige Wort findet. Denn so wie der Hungrige das Brot schätzt, so schätzt der Einsame das Wort. Und vielleicht wird dieser Vorübergehende euer Weggefährte auf der langen Reise des Lebens.
Es fehlte noch der siebte Wunsch. Es musste ein Gewichtiger sein. Einen auf den man zurückgreifen kann, wenn alle Sticke reißen, auf diesen Wegen und Umwegen des Lebens, wo Erfolg und Misserfolg sich kreuzen. Und ich erinnerte mich an ein Wort, dass Eltern eines ehemaligen Abiturienten mir zugesandt hatten. Als ich es wieder las, wusste ich: das ist mein siebter Wunsch.
Es ist ein ungewöhnlicher Wunsch: Ich wünsch euch einen Engel.
Und diesen letzten siebten Wunsch richte ich an ihn, den Engel, der manchmal Menschengestalt annimmt, manchmal aber auch einfach ein guter Gedanke Gottes ist:
„Sie brauchen dich ganz dringend. Denn diese Jahre sind die schwerste Zeit. Alles muss eigenhändig geregelt werden, man muss sich freikämpfen, alles selbst verantworten und von dir, Engel, will man nichts wissen.

Eine Mutter kann nicht immer eingreifen. Aber du darfst.
Ein Vater kann nicht immer Ratschläge erteilen. Aber deine Weisheit kommt von Gott.
Bleibe bei unseren erwachsenen Kindern.
Hilf ihnen auf den Pfaden des Lebens zu wandern und den richtigen Weg zu finden.
Führe sie nicht den leichtesten Weg, aber den schönsten - ihren eigenen Weg." (Text aus Schweden)

Nach diesem letzten Wunsch steh ich auf und schließe die Tür meines Büros ab. Als ich dann durch die verwaisten Flure der Schule gehe, denke ich noch: Schulen sind unheimliche Orte, wenn sie menschenleer sind.
Draußen begegne ich meinem alten Bekannten der, so wie er es nennt, den „Vor-dem-Schlafen-Gehen-Spaziergang" macht. Ich spreche ihn an (wir wissen, wir reden Platt miteinander): „Du hast bestimmt jedaat, als ich oven ant Fenster ston, den hat nöjst ze don". Er guckt mich verschmitzt an und sagt: „Nee, ich han jedaat, den steht ant Fenster und wees net mi widder".
So ist das nun mal bei alten Bekannten. Was er aber nicht wusste war, dass dieses Fenster mir an diesem Tag 7 Wünsche für euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, offenbarte.

Engelbert  Cremer, Direktor BS-Gymnasium
(gelegentlich der Jahresabschlussfeier 2004)